Wenn Hunde Stress schlecht verarbeiten, schnell hochfahren oder Schwierigkeiten haben, sich zu konzentrieren, liegt das häufig nicht am „Ungehorsam“, sondern an einer (noch) nicht vollständig ausgereiften Steuerung im Gehirn – der sogenannten Exekutivfunktion.
Diese Funktionen sind die „innere Bremse“ des Hundess. Sie helfen ihm, Emotionen zu regulieren, Impulse zu hemmen, seine Aufmerksamkeit zu lenken und flexibel auf neue Situationen zu reagieren. Wie gut ein Hund das kann, hängt stark von Entwicklung, Training, Umwelt und Stressbelastung ab.
Was sind Exekutivfunktionen überhaupt?
Exekutivfunktionen sind kognitive Kontrollprozesse im Gehirn, die Verhalten, Emotionen und Aufmerksamkeit gezielt steuern. Sie sind die Grundlage dafür, dass ein Hund
- abwarten kann,
- Frustration aushält,
- nicht bei jedem Reiz reagiert,
- und sich nach Aufregung wieder beruhigt.
Sie ähneln dem, was wir beim Menschen als Selbststeuerung oder Selbstbeherrschung bezeichnen.
Je besser die Exekutivfunktionen ausgebildet sind, desto leichter fällt es deinem Hund, sich in unserer Umwelt zurechtzufinden. Vor allem unter Stress.
Wie Exekutivfunktionen entstehen und warum die Pubertät entscheidend ist
Hunde werden nicht mit funktionierenden Exekutivfunktionen geboren.
Diese Fähigkeiten entwickeln sich erst im Laufe der Jugend, ähnlich wie beim Menschen. Die entscheidende Phase liegt in der Pubertät, wenn die entsprechenden Nervenverbindungen im Gehirn gebildet und gestärkt werden. Das passiert jedoch nicht automatisch in die von uns gewünschte Richtung. Denn die meisten Hundehaltenden würden wohl unterschreiben, dass sie sich wünschen, dass ihr Hund über eine ausgesprochen gute Selbstbeherrschung und Frustrationstoleranz verfügt.
Damit das gelingt, braucht ein Hund Erfahrungen, in denen er diese Verbindungen aktiv nutzt:
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kleine Herausforderungen,
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kontrollierbare Frustrationen,
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gezielte Impulskontrollübungen,
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und sichere Erholungsphasen danach.
„Viel hilft viel“ wäre genauso fatal, wie „so wenig wie möglich“.
Wächst ein Hund dagegen reizarm auf, erlebt dauerhaften Stress oder wird strafbasiert trainiert, können diese Verbindungen geschwächt werden.
Das erklärt, warum manche Hunde trotz „korrektem Training“ impulsiv oder überfordert reagieren: Ihre „innere Bremse“ wurde schlicht nicht ausreichend aktiviert oder stattdessen „ausgeleiert“.
Was Forschung über Umwelt, Training und Stress zeigt
Studien belegen sehr deutlich, welche Erfahrungen die Entwicklung der Exekutivfunktionen fördern oder hemmen:
Förderlich sind:
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Positives, belohnungsbasiertes Training
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Herausforderungen, die der Hund bewältigen kann
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Leichter, dosierter Stress mit klarer Erholung
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Soziale Unterstützung durch vertraute Bezugspersonen
Hemmend wirken:
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Straftraining und Druck
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Reizarme oder monotone Umgebung (z. B. Zwingerhaltung)
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Dauerhafte Überforderung oder chronischer Stress
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Situationen, in denen der Hund keine Kontrolle über die Konsequenzen hat
Kleine Rassen, große Unterschiede?
Eine Studie mit über 7.000 Hunden aus 74 Rassen (Horschler et al., 2019) zeigte, dass kleinere Rassen im Durchschnitt über weniger ausgeprägte Exekutivfunktionen verfügen als große.
Die Forschenden führen das auf die absolute Gehirngröße zurück, die mit besserer Impulskontrolle und Kurzzeitgedächtnis korreliert.
Das bedeutet nicht, dass kleine Hunde „weniger intelligent“ sind – aber sie brauchen oft mehr Unterstützung, um ihre Emotionen zu regulieren.
Man könnte sich fragen: Ergibt es für Hunde eventuell auch weniger Sinn, über eine ausgeprägte Selbstbeherrschung zu verfügen? Denn wenn man sich kleine Hund so ansieht, dann scheint es regelmäßig überlebensnotwendig angesichts übergriffiger Menschen und distanzloser Hunde die Fassung zu verlieren und so auch auf sich aufmerksam zu machen, Gefahren abzuwehren und wehrhaft zu wirken. Sich vielleicht schneller zu erschrecken, in Sicherheit zu bringen, überraschender aus der haut zu fahren und Ressourcen oder Territorium zu verteidigen, überzureagieren und damit auch vom Überraschungseffekt zu profitieren.
Exekutivfunktionen und Assistenzhunde: Wenn Denken über Erfolg entscheidet

In einer Studie aus 2024 (Applied Animal Behaviour Science) wurden 147 Blindenführhund-Kandidaten untersucht.
Welpen, die im sogenannten A-nicht-B-Test (ein Test zur Impulskontrolle und Merkfähigkeit) mehr als drei Fehler machten, schafften die Ausbildung deutlich seltener.
Junghunde, die sich gut auf ihre Bezugsperson konzentrieren konnten, hatten dagegen eine deutlich höhere Erfolgsquote.
Diese Ergebnisse zeigen:
Hunde mit starken Exekutivfunktionen können besser lernen, mit Stress umzugehen, sich zu fokussieren und im Training kooperativ zu bleiben.
Kann man Exekutivfunktionen trainieren?
Die Antwort auf die große Preisfrage:
Ja!
Exekutivfunktionen sind formbar, ähnlich wie Muskulatur: Sie werden stärker, wenn sie regelmäßig genutzt und richtig dosiert beansprucht werden.
In meinem Training lege ich deshalb großen Wert darauf, dass Hunde
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ihre Impulse selbständig aber angemessen hemmen lernen,
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gezielte Frustrationstoleranz-Übungen erleben,
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Aufmerksamkeit und Selbstberuhigung aktiv üben,
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und sich nach Erregung wieder regulieren können.
Ganz wichtig dabei ist mir beim Umgang mit Frustration der wirklich differenzierte und individuelle Aufbau. Es scheint aktuell enorm im Trend zu sein, Hund möglichst viel zu frustrieren und sich langweilen zu lassen, um „Ruhe zu üben“. Das so pauschal immer wieder zu propagieren halte ich für falsch.
Vielmehr geht es immer darum, dass der individuelle Hund dosiert Enttäuschung, Langeweile und Wartezeiten erlebt und zwar im Ergebnis als „war garnicht so schlimm“. Hirnloses Festsetzen und zu viel Frsutation führt zu Stress und gegenteiligen Ergebnissen. Die Dosis macht (wie immer) das Gift und ein allgemeingültiges Kochrezept gibt es nicht.
Hilf deinem Hund, seine „mentale Bremse“ zu stärken und so langfristig gelassener zu werden. Das Training braucht Zeit, aber es lohnt sich.
Warum das wichtig ist > auch für Stressmanagement
Viele meiner KundInnen kommen zu mir, weil ihr Hund „ständig unter Strom steht“, nicht zur Ruhe kommt, nervt, viel zu wenig schläft, regelmäßig die Fassung verliert und einfach: gestresst scheint.
Bei Junghunden steckt dahinter nicht immer „Fehlerziehung“, sondern schlicht ein fehlendes neuronales Fundament: Das Gehirn des Hundes kann sich noch nicht effizient regulieren.
Dann stoßen klassische Stressmanagement-Methoden schnell an Grenzen.
Ein Hund kann nur so viel Ruhe lernen, wie sein Nervensystem zulässt.
Deshalb ist es so wichtig, Exekutivfunktionen gezielt zu fördern, statt nur Symptome (wie Bellen, Unruhe oder Ziehen) zu unterdrücken.
Und das am Besten eben dennoch von klein auf, damit sich das kleine Hundegehirn in angepassten Steps entwickeln kann und auch Ups and Downs keinen totalen mental breakdown bedeuten.
Fazit: Exekutivfunktionen sind die Basis für Kooperation, Gelassenheit und Lernfähigkeit
Exekutivfunktionen sind das Bindeglied zwischen Emotion, Denken und Verhalten.
Sie bestimmen, ob ein Hund unter Stress ansprechbar bleibt, ob er seine Impulse kontrollieren kann und wie gut er überhaupt in der Lage ist, Neues zu lernen.
Wenn du um die Wichtigkeit und Zusammenhänge weißt, kannst du Training, Alltag und Stressmanagement mit deinem Hund deutlich gezielter gestalten.
Ich arbeite in meinen Coachings und Kursen deshalb nie „am Symptom“, sondern immer am System. In dem Fall (und das nicht selten) am Nervensystem des Hundes. Denn Anpassung braucht Struktur, nicht Druck.
Deshalb bin ich eben auch kein Fan von „kurzen Tipps“ oder einer einmaligen Trainingseinheit. Denn Alles hängt irgendwie miteinander zusammen und ist dann auch noch echt individuell. Und wenn dann der Plan für den Hund perfekt erscheint, kommt ja noch dazu, wie es um die Exekutivfunktionen der jeweiligen Bezugsperson des Hundes bestellt ist 😉.
Wenn du deine persönlichen Exekutivfunktionen mal auf die Probe stellen magst (und meine und die deines Hundes), dann kannst du hier ein kurzes Erstgespräch vereinbaren.
Quellenauszug für Nerds 💖:
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Foraita, M., Howell, T., & Bennett, P. (2021). Environmental influences on development of executive functions in dogs. Animal Cognition,
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Horschler, D. J., Hare, B., Call, J., Kaminski, J., Miklósi, Á., & MacLean, E. L. (2019). Absolute brain size predicts dog breed differences in executive function. Animal Cognition,
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Foraita, M., Howell, T., & Bennett, P. (2024). Executive functions in a population of guide dog candidates. Applied Animal Behaviour Science
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Foraita, M., Howell, T., & Bennett, P. (2022). Development of the Dog Executive Function Scale (DEFS) for adult dogs.Animal Cognition,
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Foraita, M., Howell, T., & Bennett, P. (2023). Executive functions across the lifespan (DEFS).
Hunde wirken sich als Schulhunde übrigens auch auf die Exekutivfunktionen von Kindern aus: https://zenodo.org/records/5092093